„Was als Aufstand der Autofahrer in gelben Warnwesten gegen die Erhöhung der Steuer auf Kraftstoffe begann, wurde zu einer ausgewachsenen Revolte von jenen Franzosen, die sich vom Staat im Stich gelassen und von Macron betrogen fühlten. Gewalttätige Szenen wie aus einem Bürgerkrieg. Paris hielt wochenlang den Atem an. Macron am Tiefpunkt seiner Macht. Ein Volksaufstand ohnegleichen. Mit den Gilets jaunes, der Bewegung der Gelbwesten, hatte keiner gerechnet.“ Seit über zehn Jahren lebt die Journalistin Romy Straßenburg in Paris, doch langsam erkennt sie die Stadt nicht mehr wieder. Einst fühlte sie sich vom Unbeugsamen der Metropole angezogen, doch dieses Gefühl wurde langsam von einer gewissen Unsicherheit verdrängt. Also blickt sie zurück auf ihre Jahre in Frankreich und wählt dafür elegant als Rahmen eine Themenparty zum Fall der Berliner Mauer in ihrer Wohnung. Romy Straßenburg, Jahrgang 1983, wuchs im Ost-Berliner Stadtteil Marzahn auf. Ihre Herkunft spielt immer wieder eine Rolle, wenn sie erinnert, wie sich „ihr“ Frankreich veränderte.

Etienne Laurent

Sie erzählt diese Verwandlung, wenn sie zum Beispiel sich und ihre Freundinnen und Freunde dabei beobachtet, wie sie auf Jobsuche sind, den Alltag bewältigen und zusammen feiern: „Das Glück in dieser Stadt lässt lange auf sich warten, wenn du zu jener Spezies gehörst, die aus Wahnsinnigen, Idealisten und Masochisten besteht: jenen Menschen also, die aus freien Stücken und ohne Arbeitsvertrag Paris zu ihrer neuen Heimat machen. Wir finden es nicht nur geil, in WG-Zimmern oder winzigen Studios zu hausen, bei denen meinen Berliner altbauverwöhnten Freunden anfangs der Mund offen stehen blieb.“
Dann kam der IS-Terror nach Paris. Vom Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 2015 erfuhr sie im Skiurlaub, berichtete darüber und tauchte später intensiv in den Alltag dieser besonderen Redaktion ein. Ein Jahr lang arbeitete sie an der deutschen Ausgabe mit, immer unter Polizeischutz und in einem Hochsicherheitstrakt.

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Auch wie sie die Attentate am 13. November 2015 und die folgenden Tage erlebte (das Foto zeigt das Gedenken an die Opfer des Anschlags auf den Konzertsaal Bataclan), wie persönliche Betroffenheit sie während ihrer journalistischen Arbeit einholte, erzählt sie einfühlsam und mit kritischem Blick auf Politik und Medien. Sie schildert, wie jede Regierung der jüngsten Zeit darin versagte, wachsende soziale Probleme zu lösen.

Romy Straßenburg schrieb ein lebendiges, unterhaltsames und zugleich nachdenkliches Resümee ihre bisherigen Jahre in Frankreich. Es ist zugleich ein Tagebuch über die tiefen gesellschaftlichen Veränderungen in diesem Land. Ihre Protagonisten sind die Gäste ihrer Party, Alltagserlebnisse wechseln ab mit beruflichen Extremsituationen und ausgelassenen Abenden auf dem Rasen der deutschen Botschaft. Diese Mischung erzeugt Nähe und Spannung.

Romy Straßenburg: Adieu liberté – Wie mein Frankreich verschwand. Ullstein fünf 2019, 240 Seiten

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Am Ende klagt der Erzähler die Politiker an der Spitze der französischen Regierungen vergangener Jahre an: „Hollande, Valls, El Khomri, Hirsch, Sarkozy, Macron, Bertrand, Chirac. Für deine Leidensgeschichte gibt es Namen. Deine Lebensgeschichte ist die Geschichte dieser Figuren, die aufeinandergefolgt sind, um dich fertigzumachen. Die Geschichte deines Körpers ist die Geschichte dieser Namen, die aufeinandergefolgt sind, um dich zu zerstören. Die Geschichte deines Körpers ist eine Anklage der politischen Geschichte.“ Édouard Louis prägte schon im Sommer 2018 den Begriff der konfrontativen Literatur, er sagt, „Literatur muss kämpfen – für all jene, die selbst nicht kämpfen können.“ Im Dezember solidarisierte er sich öffentlich mit den Gelbwesten: „Diese Bewegung muss weitergehen. Weil sie etwas Richtiges, Dringendes, Radikales verkörpert. Weil sie endlich die Gesichter und Stimmen sichtbar und vernehmbar macht, die normalerweise in die Unsichtbarkeit gebannt werden.“

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Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf, thematisiert Édouard Louis in seinem jüngsten Buch kompromisslos die Ohnmacht und die Wut jener Menschen, die in der Provinz ihr Leben zu verpassen drohen. Er reflektiert die schmerzhafte Annäherung eines Sohnes an seinen Vater. Lange erlebte der Erzähler ihn abweisend, betrunken und frustriert: „Wenn ich heute darüber nachdenke, so finde ich, dein Dasein war gegen deinen Willen – und eben gegen dich – ein Dasein ex negativo. Du hattest kein Geld, du hast keine Ausbildung machen können, keine Reisen unternehmen, keine Träume verwirklichen können. Um dein Leben zu beschreiben, stehen der Sprache nur Negationen zur Verfügung.“ Nach einem schweren Arbeitsunfall wurde er zum Sozialfall und trotzdem gezwungen, als Straßenfeger zu arbeiten. Seine Ehe ging in die Brüche, erst spät interessierte er sich für den beruflichen Erfolg seines Sohnes, dessen Homosexualität er kaum akzeptieren konnte. Klar und schnörkellos zeichnet der Erzähler den Lebensweg und sozialen Abstieg des Mannes nach, den er zu Beginn des Buches kaum zu kennen glaubt. Schließlich rechnet er mit dem neoliberalen System ab, um die Frage im Buchtitel zu beantworten. Die Konsequenz aus dieser Geschichte eines verpfuschten Lebens mündet im Fazit des Vaters: „Ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.“

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel; S. Fischer 2019, 77 Seiten

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