„Putin wollte aus dem Schatten heraus die Welt beherrschen, oder zumindest einen Teil davon. Das entspricht weitgehend der Position, die er schließlich erlangte, doch als er frisch zum KGB kam, war es keinesfalls sicher, dass er jemals etwas Bedeutendes oder halbwegs Interessantes würde tun dürfen.“ Masha Gessen klopft die Biographie des russischen Präsidenten auf Brüche ab, forscht nach prägenden Entscheidungen und Ereignissen. Schicksale seiner Weggefährten, Konkurrenten und Kritiker illustrieren in diesem 2012 entstandenen Buch wie in einem Politthriller, welche Veränderungen Russland vom Ende der Jelzin-Jahre an unter Putins Präsidentschaft erlebte. Dabei bezieht Masha Gessen häufig persönliche Erlebnisse ein, beispielsweise von Reisen nach Tschetschenien, und hinterfragt die offiziellen Versionen von Terroranschlägen und Geiselnahmen. Und weshalb flüchteten viele frühere Verbündete Putins ins ausländische Exil, was steckt hinter dem Tod des Oligarchen und Putin-Förderers Boris Beresowski, warum wurde der frühere Geheimdienstmitarbeiter Alexander Litwinenko vergiftet und die oppositionelle Journalistin Anna Politkowskaja erschossen? Welche Verbindungen aus seiner Zeit bei den Geheimdiensten KGB und FSB nutzte der russische Präsident, um die Öffentlichkeit zu manipulieren? Welche Rolle spielten Mafia-Kontakte aus der Zeit als Vizebürgermeister in Sankt Petersburg?
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Ihr Fazit: Putin steigerte sich vom Kompromiss-Kandidaten für Jelzins Nachfolge zum größenwahnsinnigen Diktator, der inzwischen die Nachkriegsordnung infrage stellt und wie ein Zar Russland zu früherer Größe führen will. „Ich glaube, damals, ein Jahr nach dem Beginn seines wundersamen Aufstiegs und 100 Tage nach seiner Wahl zum Präsidenten, begriff Putin, dass er die Verantwortung für das gesamte zerbröckelnde Gebilde einer einstigen Supermacht trug“, schreibt Masha Gessen. „Seine Wandlung glich der eines Politikers, der nach langer Zeit in der Opposition plötzlich an die Macht gelangt – außer dass Putin nie Politiker gewesen war.“ Um seine Macht zu legitimieren, setze er folglich statt auf Demokratie auf Bürokratie und Korruption. Den Westen wird Putin in einen Kulturkampf um dessen Wertvorstellungen verwickeln, bevor westliche Politiker „das volle Ausmaß und die Gefahr von Putins Wandel erkennen werden. Aber das ultimative Opfer wird Russland selbst sein, ein Land, in dem das Liebäugeln mit Fortschritt und Demokratie in den 1990er Jahren, wenn überhaupt, als ein Ausreißer in Erinnerung bleiben wird, und das wieder einmal für die eigene Zukunft auf den Kampf gegen den Westen und die Abschottung davon setzt.“
Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht. Wladimir Putin – Eine Enthüllung. Übersetzt von Henning Dedekind und Norbert Juraschitz; Piper 2013, 384 Seiten
Hin und wieder blitzt in dieser Analyse, die Stanislaw Belkowski bereits 2013 schrieb, tiefe Enttäuschung darüber auf, wie sich die Verhältnisse in Russland nach dem Ende der Sowjetunion entwickelten: „Die erste Perestroika von Michail Gorbatschow brachte uns einen alternativlosen Oppositionsführer – Boris Jelzin. Für ihn waren wir Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre bereit, durchs Feuer zu gehen. Danach mussten wir uns davon überzeugen, dass wir uns mit eigenen Händen ein autoritäres, korrumpierbares oligarchisches Regime an den Hals geschafft hatten, das den heute vielen verhassten Wladimir Putin hervorbrachte.“ Er stellt dem Präsidenten Russlands den Russischen Bildungsbürger gegenüber, der sich mit den herrschenden Verhältnissen nicht länger abfinden will. Zorniger Widerstand wird Putins System zusammenbrechen lassen, weil sich die Bevölkerung nicht länger von dessen Rhetorik der „sedierenden Psychopharmaka“, die jede progressive Entwicklung unterdrückt, ruhigstellen lässt.
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Stanislaw Belkowski porträtiert Wladimir Putin in mitunter mehrdeutigem Stil und mit einer gewagten Mischung aus Fakten und Fiktionen. Einerseits wirft er ihm vor, die Oligarchen noch mächtiger und reicher werden zu lassen. Andererseits bestreitet er, Putin sei ein Imperialist und habe wirklich als Auslandsspion gearbeitet. Zudem nennt er ihn willensschwach, russophob und antisowjetisch. Diese Sicht auf Putin dürfte seine langjährige Zusammenarbeit mit dem Oligarchen Boris Beresowski geprägt haben. Für internationales Aufsehen sorgte er 2007, als er für Die Welt Putins Reichtum bewertete: „Geht man von der begründeten Voraussetzung aus, dass er als Begünstigter 4,5 Prozent der Aktien von Gazprom kontrolliert, die Hälfte des Kontrollpakets an der Ölfirma Surgutneftegas sowie 50 Prozent der Aktien des weltweit viertgrößten Energiehändlers Gunvor, dann kann man das Vermögen des Kremlherrn auf 40 Milliarden Dollar schätzen.“ Inzwischen, fügt er an, dürfte der Wert nur dieses Paketes weiter gestiegen sein. Eben dieser Geschäftssinn sei der Schlüssel, um den russischen Präsidenten zu beeinflussen. Beispielsweise würden Gaspreis und Kapitalisierung des Gazprom-Konzerns seine Strategie gegenüber der Ukraine und Belarus bestimmen. Jene, „die Putin als Tschekisten, Imperialisten und Falken eines neuen Kalten Krieges sehen, sind nicht in der Lage, ihn durch Motivationen zu lenken. Damit reizen sie seinen wachsenden Zorn und verstärken in sich die wachsende Angst vor dem ›Tyrannen‹“. Stanislaw Belkowski zweifelt in seinem Buch an der herrschenden Meinung des Westens in Sachen Putin. Seine Sicht mag fremd erscheinen, allerdings sollte auch sie zur Kenntnis genommen werden.
Stanislaw Belkowski: Wladimir – Die ganze Wahrheit über Putin. Übersetzt von Franziska Zwerg; Redline 2014, 368 Seiten