„Bei der Absicherung der Tiefe kommt einem Spieler eine besondere Rolle zu: dem Torhüter“, erklärt Tobias Escher und erinnert an spektakuläre Aktionen von Manuel Neuer im WM-Achtelfinale 2014 zwischen Deutschland und Algerien: „Er sprintete, grätschte, klärte Bälle – und das weit außerhalb des eigenen Strafraums.“ So agiert ein Antizipationstorhüter, weil er es voraussieht, wenn der Gegner den Ball hinter die Abwehrreihe bringt, und greift auch weit entfernt vom Tor rechtzeitig ein. Im Unterschied dazu verlässt ein Reaktionskeeper kaum den eigenen Strafraum. Moderner Fußball verlangt von den Akteuren neben Fähigkeiten wie Sicherheit und Präzision am Ball mehr Reaktionsschnelligkeit, wenn sich Spielsituationen ändern. Tobias Escher betont, dass sie bereits im Jugendalter lernen, wie sie sich beispielsweise im eigenen Strafraum zu verhalten haben. Doch das Spiel wird komplexer und facettenreicher, Situationen wechseln schneller vom eigenen Ballbesitz zu dem des Gegners. Die Spieler folgen dabei bestimmten Prinzipien. Sie „sagen nicht, wie sich der einzelne Spieler konkret zu entscheiden hat in einer solchen Situation. Sie dienen aber als Hilfestellungen, damit die Spieler gute Entscheidungen treffen. Wie sie konkret diese Hilfestellungen umsetzen, bleibt ihnen überlassen.“ Tobias Escher erläutert, welche Herausforderungen heute vor Spielern stehen und wie sie ihnen begegnen. Er beleuchtet ausführlich kritische Momente, die Spiele entscheiden können, und lehrt die Fußballsprache: „Eine Pass-Klatsch-Kombination beginnt stets mit einem Pass in Richtung des gegnerischen Tors. Ein Angreifer, der sich mit dem Rücken oder seitlich zum Tor befindet, legt diesen Pass nach hinten oder zur Seite ab. Er lässt ihn klatschen.“ Seine Lektionen zu Positionen, Formationen und Standards schrieb er abwechslungsreich und unterhaltsam.

Tobias Escher: Der Schlüssel zum Spiel – Wie moderner Fußball funktioniert. Rowohlt Taschenbuch 2020, 240 Seiten

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Axel Heimken/dpa/picture alliance

Tobias Escher entschlüsselt die Taktik von Fußballteams wie ein Trainer in stundenlanger Videoanalyse von Spielen oder direkt im Stadion. Sein Rüstzeug erwarb er als aufmerksamer Beobachter im Selbststudium. Eine Taktik offenbart sich für ihn erst mit den Aktionen auf dem Spielfeld, nicht allein durch Auswahl der Akteure und Formation der Mannschaft: „Unter Taktik fällt also nicht nur das, was der Trainer sagt (Plan), sondern auch das, was der Spieler tut (Ausführung).“ Er gehört zu den Gründern des mehrfach ausgezeichneten Blogs Spielverlagerung.de, schreibt für Die Welt und 11 Freunde. 2018 veröffentlichte er sein Buch Die Zeit der Strategen – Wie Guardiola, Löw, Mourinho und Co. den Fußball neu denken.

Zu Beginn seiner Arbeit als Bundestrainer orientierte sich Joachim Löw an der englischen Premier League. Schnell und schnörkellos sollten die Spieler das gegnerische Tor angreifen, schreibt Tobias Escher, denn „Löw rechnete seinen Spielern vor: In den ersten zehn Sekunden nach einem Ballgewinn ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, ein Tor zu erzielen.“ So besiegte die deutsche Mannschaft bei der WM 2010 England im Achtel- und Argentinien im Viertelfinale. Sie scheiterte an Spanien und Joachim Löw erkannte, dass Ballbesitzspiel gegen Konterfußball gewinnen kann. In den folgenden Jahren griff er eine Idee seines frühen Vorgängers Sepp Herberger auf und erzeugte mit dem zurückfallenden Stürmer im Mittelfeld ein Übergewicht. In Brasilien 2014 passte alles zusammen: „Der WM-Titel war der Höhepunkt und der Abschluss einer Reformbewegung, die 20 Jahre zuvor begonnen hatte. Anfang der nuller Jahre hatte Deutschland gelernt, im Raum zu verteidigen und zu pressen. Ende des Jahrzehnts kam das schnelle Konterspiel dazu. Jürgen Klopp erweiterte das Repertoire um das Gegenpressing. Der letzte Schritt war das Ballbesitzspiel, das die Nationalmannschaft von Bayern München übernahm. Keines der Einzelteile war originär deutsch.“ Tobias Escher erzählt von innovativen Entscheidungen großer Trainer. Sie ließen ihre Mannschaften mutiger, präziser, schneller spielen als es die gegnerischen Teams vermochten. Konzepte wurden erprobt, verworfen und kopiert. 1975 trat jede Mannschaft mit einem Libero an, vierzig Jahre später war er verschwunden. Spieler bewegen sich heute in Dreiecken und Zonen. In Vom Libero zur Doppelsechs erklärt Tobias Escher taktische Konzepte anschaulich, vermittelt Zusammenhänge und Unterschiede. Sein Buch hilft besser zu verstehen, weshalb bestimmte Mannschaften Fußballspiele gewinnen und andere nicht.

Tobias Escher: Vom Libero zur Doppelsechs – Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Rowohlt Taschenbuch 2016, 320 Seiten

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