Die Volksrepublik China erscheint manchen westlichen Beobachtern noch immer undurchschaubar, fremd, verschlossen. Der Sinologe Daniel Leese wagte sich an die spannende Aufgabe, eine wichtige Phase Chinas zu dekodieren: Das Jahrzehnt nach dem Tod des Großen Vorsitzenden Mao Zedong. „Es gibt wohl kaum einen Staat, der sich im unmittelbaren Gefolge eines politischen Führungswechsels intensiver und großflächiger mit Fragen historischen Unrechts beschäftigt hat als die Volksrepublik China zwischen 1976 und 1987. Sowohl organisatorisch als auch ökonomisch investierte die Partei enorme Ressourcen, um individuell erlittenes Unrecht auszugleichen, Täter zu identifizieren und Objekte zu restituieren, deren Enteignung nunmehr als unrechtmäßig betrachtet wurde“, schreibt er im Epilog seiner Studie. Mao und die Kommunistische Partei starteten Massenkampagnen wie die Kulturrevolution, um jeden Anflug kapitalistischer Ideologie und Wirtschaft zu unterbinden. Sie dauerte bis zu Maos Tod, Daniel Leese spricht von über 100 Millionen politisch Verfolgten und zeitweilig drohte ein Bürgerkrieg. Auf zehn Jahre Chaos folgten zehn Jahre Aufräumen.
Privat
Wie sein Buch entstand, liefert Stoff für eine eigene Erzählung. 2005 entdeckte er auf einem Flohmarkt in Beijing Gerichtsurteile jener Zeit. Mit weiterem Material von Zeitzeugen und chinesischen Forschern, aus Privatarchiven und Tagebüchern formte er seine Rekonstruktion. Der Europäische Forschungsrats unterstütze das Projekt. Denn „Politisierung und Kriminalisierung der historischen Forschung haben die hervorragenden chinesischen Ansätze zur kritischen Untersuchung dieses Zeitraums weitgehend unterbunden.“ Daniel Lesse erforscht detailliert, wie die Partei versuchte, Fehlentwicklungen und Verbrechen politisch wie juristisch aufzuarbeiten, ohne die Kontrolle zu verlieren. Dabei behält er Positionen und Ziele der handelnden Personen, den jeweiligen Kontext in dieser unruhigen Situation fest im Blick. Zugleich wahrt er kritische Distanz und hinterlegt Kriterien für die Bewertung ähnlicher historischer Prozesse. Sein Fazit handelt von unmittelbaren Zwängen und verpassten Chancen, denn die Partei verschob eine tiefere Aufarbeitung, erinnerte an die zerstörerische Stimmung der Kulturrevolution. Dies „wurde nunmehr zum Vorwand, Diskussionen über die Vergangenheit zu unterbinden und die Ansätze einer demokratischen Legitimierung der eigenen Herrschaft zu vertagen.“ Maos langer Schatten gestattet es, Denkmauern zu überwinden und hinterfragt sehr lesenswert einen spannenden Abschnitt chinesischer Geschichte.
Daniel Leese: Maos langer Schatten – Chinas Umgang mit der Vergangenheit. C.H.Beck 2020, 606 Seiten
„Dass Tatsachen, Meinungen, Fantasien und Ängste zu einer großen Matschepampe vermischt werden, ist nicht nur schlecht für die Wissenschaft, sondern auch für unsere Debattenkultur“, schreibt die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Sie geht Debatten-Dauerbrenner wie beispielsweise den Unterschieden zwischen den Geschlechtern, den Risiken der Pharmaforschung und der Legalisierung von Drogen auf den Grund, indem sie die Datenlage zu diesen Themen aufruft und erläutert. Denn wenn intensive Diskussionen zu gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen sinnvoll geführt werden sollen, hilft nur eine wissenschaftliche Denkweise. In ihrem Wer-Wie-Was?-Buch lädt sie ein, exemplarisch diese Methode zu entdecken. Sie erläutert Testverfahren, Grundbegriffe der Statistik und Nachteile eingeschränkter Sichtweisen. So schlägt sie auch eine Schneise durch den Dschungel von Vorurteilen und Verschwörungstheorien, denn gegen Manipulation schützt wunderbar wissenschaftliches Denken.
Thomas Duffé
Diese Art den Verstand zu benutzen, bedeutet für die promovierte Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim „eine Freude an Komplexität und eine Skepsis gegenüber zu einfachen Antworten. Eine Freude an Differenzierungen, Nuancen, Details und Grautönen. Wenn man das mit so mancher verhärteten politischen Debatte vergleicht, wirken typisch wissenschaftliche Diskurse fast wie ein wohltuendes Entspannungsbad. Wissenschaftliches Denken ist aber in erster Linie kritisches Denken – und deswegen auch außerhalb der Wissenschaft gefragt.“ Sie erinnert damit an Factfulness von Hans Rosling und fordert ergebnisoffene, sachliche Diskussionen auch bei brisanten Themen: Fakten statt Fake News, Information statt Interpretation. Bevor gestritten werden kann, muss die Realität abgeglichen werden, sonst gerät das Gespräch darüber schnell in Schieflage. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die eigene Position infrage zu stellen. „Das Paradox unseres Informationszeitalters ist“, stellt Mai Thi Nguyen-Kim nüchtern fest: „Je mehr Informationen verfügbar sind, desto schwieriger wird es, sich zu informieren.“ Der Reiz ihres Leitfaden für kritisches und klares Denken liegt darin, dass sie unterhaltsam, faktenbasiert und präzise ihr Thema bearbeitet. Also genauso, wie ein kontroverser Meinungsaustausch geführt werden sollte, um zu einem weiterführenden Ergebnis zu kommen. So sind am Ende alle klüger und eher bereit, ihre Meinung zu sagen.
Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit – Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Mit Illustrationen von Ivonne Schulze; Droemer 2021, 368 Seiten