Die Journalistin und Schriftstellerin Masha Gessen siedelte 1981 mit ihrer russisch-jüdischen Familie aus der UdSSR in die USA über. Da war sie 14 Jahre alt. 1991 kehrte sie als Reporterin zurück, berichtete über den Zerfall der Sowjetunion, den Krieg in Tschetschenien und den Aufstieg von Wladimir Putin. 2013 verließ sie Moskau erneut und zog nach New York, um Repressionen zu vermeiden: „Meine Optionen waren, entweder zu emigrieren oder zusehen zu müssen, wie die Behörden mir aufgrund meiner Homosexualität das Sorgerecht für meine Kinder streitig machen würden.“ Diese Erfahrungen prägen ihre Arbeit auf eine ganz besondere Weise.

„Trumps Amerika ist wie Trump“, schreibt Masha Gessen, „weiß, männlich, hetero, von Feinden umzingelt, aggressiv.“ Brillant analysiert sie, wie er die USA in eine Autokratie verwandeln will. Seine Anwälte ließ er den Kongress belügen, die Öffentlichkeit belog er selbst und die Institutionen wurden davon kalt getroffen. Seine Präsidentschaft habe reale Erfolgschancen für so ein Unternehmen bewiesen und „dass ein autokratischer Versuch logisch auf den Strukturen und Normen des amerikanischen Regierungssystems aufbauen kann: auf der Machtkonzentration in der Exekutive und auf der Ehe von Geld und Politik.“ Masha Gessen folgt dieser Spur. Als Trumps Vorbilder sieht sie neben Putin auch Viktor Orbán, von denen er sich den Trick abgeschaut habe, „Worte und Sätze umzukehren, bei denen es um Machtverhältnisse geht.“ Autokraten nutzten jeden Reichstagsbrand-Moment, um in einem Ausnahmezustand politische Normen grundlegend zu verändern, wie es in der Einwanderungspolitik und der internationalen Zusammenarbeit geschah. Zudem sei inzwischen die Republikanische Partei vom Präsidenten abhängig, „denn er ist der Schirmherr, der Macht und Einfluss verteilt. In Trumps Amerika performen die republikanischen Politiker für Trump, während Trumps Hauptadressat seine Basis ist, die Menschen, die zu seinen Massenkundgebungen kommen und seine Tweets lesen. Weil es ihm gelingt, eine große Wählerschaft zu mobilisieren, ist er auch in der Lage, Macht zu verteilen.“ Um sich vom Trumpismus zu erholen, müsse neu bestimmt werden, was eine Demokratie wirklich bedeute. Masha Gessen hofft für die Zukunft auf ein klares Verständnis von Gleichheit und gegenseitiger Abhängigkeit.

Masha Gessen: Autokratie überwinden. Übersetzt von Henning Dedekind und Karlheinz Dürr; Aufbau 2020, 299 Seiten

Kaufen + Lesen

Wer journalistisch arbeitet, besitzt vorübergehend Macht. Masha Gessen schrieb über die Situation von Geflüchteten und bemerkte, dass sie eine drohende Abschiebung verhinderte. Um also klarer die Probleme heimatloser Menschen darzustellen, sollte mindestens einen Tag lang nur über Immigration geschrieben werden. Leidenschaftlich berichtet sie von Menschen und ihren Migrations- und Fluchterfahrungen aus Kriegsgebieten, vor Hunger, Not und Verfolgung. Wenn sie beispielsweise 58 solcher Schicksale skizziert, erwähnt sie auch bekannte Gegenspieler von Wladimir Putin, doch alle kurz Porträtierten eint, dass sie ihre Heimat aufgaben. Diesen Verlust nennt sie eine „unheilbare Krankheit, eine chronische Krankheit.“ Masha Gessen hilft, diese Situation nachzuvollziehen. Sie schildert, wie sie sich anfühlt, das Leben prägt. „Als Migrant, als Mensch im Exil, als Flüchtling passt man sich so an, dass man für das neue Publikum lesbar wird“, sagt sie, „wir versuchen, zu erklären, wer wir in einem ganz anderen Kontext, zu einer ganz anderen Zeit, an einem ganz anderen Ort waren. Man könnte sagen, dass wir lügen, weil Geschichten nicht wirklich in eine andere Zeit, an einen anderen Ort und in eine andere Sprache zu übersetzen sind.“ Schließlich decodiert sie Sprachmuster, mit denen Menschen auf der Flucht in Schubladen gesteckt und für politische Ziele benutzt werden. Mit diesem Wissen können solche Absichten schneller durchschaut werden. Masha Gessen bringt ihre Erfahrungen auf den Punkt: „Ein Mensch ist eine Abfolge von Entscheidungen, und die Frage lautet: Wird meine nächste Entscheidung eine bewusste sein, und werde ich sie ungehindert treffen können?“

Masha Gessen: Leben mit Exil – Über Migration sprechen. Drei Vorträge, übersetzt von Ursel Schäfer; Suhrkamp 2020, 98 Seiten

Kaufen + Lesen