„Wenn zeitweise fünfhundert Menschen gleichzeitig versuchen, den Mount Everest zu besteigen, ist es nicht mehr derselbe Berg, der von Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay 1953 erstmals bestiegen wurde. Und zwar nicht nur, weil eine Menge Müll – leere Sauerstoffflaschen, kaputte Zelte, Verpackungsmaterial aller Art – zurückbleibt, sondern auch weil der Aufstieg im Gänsemarsch wenig fordert vom menschlichen Geist. Natürlich bleibt der Mount Everest gleich hoch, auch wenn er zum Rummelberg verkommt.“ Der Extrembergsteiger Reinhold Messner verlangt in seiner Streitschrift besseren Schutz für die Berge, um sie als einzigartige und grandiose Kulturlandschaft zu erhalten. Am Mount Everest, dem höchsten Berg der Welt, treibt seiner Meinung nach der Massentourismus den Irrsinn auf die Spitze. Mit Handy und Hubschrauber gelangen auch Menschen in gefährliche Höhen, die ohne umfangreiche technische Unterstützung dort kaum überleben könnten. Wenn sie auf dem Weg zum Gipfel in einen Stau geraten, steht häufig ihre Gesundheit auf dem Spiel. Deshalb fordert er einen nachhaltigen Umgang mit Mensch und Natur: „Es geht mir dabei nicht nur um eine Alpinistik der einfachen Mittel, um das menschliche Maß, es geht um Ökologie. Wenn ich auf die Sauerstoffflasche verzichte, komme ich erst gar nicht in Versuchung, sie oben liegenzulassen. Nur wenn der gesamte Himalaya wie ein Naturpark respektiert wird, bleibt er faszinierend.“

Udo Bernhart/picture alliance

Reinhold Messner (das Foto zeigt ihn im Oktober 1993 beim Trekking in Nepal) weiß genau, was er da fordert, denn zwischen 1970 und 1986 bestieg er als erster Mensch alle 14 Berge mit über 8000 Metern Höhe ohne Flaschensauerstoff. Er plädiert für eine maßvolle und ausgewogene Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur der Bergregionen sowie mehr Unterstützung für die Gebirgsbewohner. Schließlich brauchen die Menschen weiterhin die Berge, um zu sich selbst zu finden: „Die Gipfel sind nicht mehr Ziel, sie tragen das Tor zur Unendlichkeit: Wenn all die Reize der Anreise abklingen, kommt Stille auf, Langsamkeit, Geduld. Langsam gehen, abwarten, einfach nur da sein, atmen, ohne sich Fragen zu stellen.“ Reinhold Messner schrieb einen lesenswerten und aufrüttelnden Appell.

Reinhold Messner: Rettet die Berge. Benevento 2019, 128 Seiten

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Vor dem italienischen Schriftsteller Paolo Cognetti tauchte Ende 2017 ein besonderer Gipfel auf, er vollendete sein vierzigstes Lebensjahr. Mit zwei Freunden und einer Gruppe von Sherpas durchquerte er eine Hochebene im Nordosten von Nepal, das Dolpo im Himalaya. Gemeinsam stiegen sie in eine Höhe von 5000 Metern, überquerten Pässe, pausierten in buddhistischen Klöstern und begegneten Bergbewohnern in diesem entlegenen Teil der Welt: „Gehen war unsere tägliche Mission, unser Zeit- und Raummaß, unsere Art zu denken, Zeit miteinander zu verbringen und den Tag zu gestalten, die Arbeit, die unser Körper inzwischen ganz automatisch verrichtete. Egal, wie abgemagert, mitgenommen oder fiebrig wir auch waren – jeden Morgen hieß es aufs Neue Aufstehen und Losmarschieren, gehorsam wie ein Maultier. Das Gehen reduzierte das Leben aufs Wesentliche, auf Essen, Schlaf, Begegnungen, Gedanken.“ Paolo Cognetti war in die Alpen gezogen und begann, die ursprüngliche Ruhe und Abgeschiedenheit zu vermissen. Er suchte „authentische Berge, unberührt vom Kolonialismus der Stadt, unversehrt in ihrem Berg-Sein“ und wollte sie in Nepal finden.

Roberta Roberto

Vor allem aber suchte er das, was das Leben in einer Gemeinschaft, in der sich alle aufeinander verlassen können, auszeichnet: Vertrauen, Mitgefühl, Verantwortung. Er erlebt solche Momente, wenn die Höhe ihn schwächt und ihm die Sinne vernebelt, er lernt seine Freunde unter Extrembedingungen neu kennen. Sein Report folgt diesem gleichmäßigen Fluss einer Reise zur Selbsterkenntnis. Mit der Rückkehr holt ihn und seine Begleiter die moderne Zivilisation ein: „Im Hochland gab es keinerlei Empfang, doch in der Talsohle, in die wir nun absteigen würden, schon. Wir brauchten nur noch einen weiteren Kamm zu überwinden, und sofort tutete es wie verrückt aus den Rucksäcken meiner Reisegefährten. Wir sahen uns an, während wir Nachrichten erhielten, die sich in einem Monat Funkstille angesammelt hatten: SMS, Mails, Sprachnachrichten, entgangene Anrufe. Willkommen zurück in der Wüste des wirklichen Lebens!“ Der Reisebericht von Paolo Cognetti wirkt zunächst unspektakulär und entfaltet seine Botschaft schließlich in einer großen Sehnsucht nach Ruhe.

Paolo Cognetti: Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen. Übersetzt von Christiane Burkhardt; Penguin 2019, 128 Seiten

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