„Was bleiben wird“ von der DDR erforschen Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer. Der Publizist Hans-Dieter Schütt moderierte ihr Gespräch.

Sie schreiben: „Die Freiheit kam rücksichtslos“. Was meinen Sie genau?

Die Freiheit kam überraschend. Über Maueröffnungsnacht. Sie nahm keine Rücksicht auf das, womit Menschen im Osten gerade beschäftigt waren. Sie riss alle mit in die Freude, auch die, die in solchen umstürzlerischen, überwältigenden Momenten eher bedenklich reagieren, furchtsam, misstrauisch. Erst ist die Freiheit eine Gleichmacherin: Sie steht allen offen. Dann wird sie wählerisch: Wer ist stark, wer schwach? Dem Schwachen bleibt irgendwann womöglich nur die Freiheit, weiter von ihr zu träumen.

Meint „rücksichtslos“ noch etwas anderes?

Ja. Wer im Osten lebte, dem wurde plötzlich die differenzierte Rück-Sicht aufs eigene Leben schwer gemacht. Als wollte er schon immer Westdeutscher gewesen sein. Die ganze Vielfarbigkeit des Lebens in der DDR passte nicht ins einfache, grobe Raster von Tätern, Opfern und Mitläufern. Solche Rücksichts-Losigkeit verletzt Biographien und erzeugt unguten Trotz, den man dann Ostalgie nennt. Individuelles Leben ist stets mehr als jene geschichtliche Tendenz, die man später aus Werden und Vergehen einer Gesellschaft zimmert. Jede Biographie bleibt ein Rätsel mit vielen Unbekannten. Das ist Erzählstoff und darf politisch motivierter Erinnerungspolitik nicht geopfert werden. Der Mensch kommt ohne Rück-Sicht nicht aus, er braucht diesen Blick über die eigene Schulter, auf Licht und Schatten des bisherigen Weges. So darf der Hals gern ein Wendehals sein: indem er sich abwendet von denen, die vorschreiben wollen, wie man gefällig gelebt haben soll.

Wie haben sich Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer verändert?

Auch wenn es paradox klingt: Sie sind mit Gesprächsdauer stiller geworden. Das wahre Gespräch ist immer auch – einander zuhören.

Was wird bleiben?

Von der DDR? Mahnung, dass die Vergesellschaftung des Menschen ein unguter Plan ist. Die Erfahrung, dass Geschichte sich nicht auf ein Reißbrett spannen lässt. Es bleibt dabei, dass nichts bleibt, aber alles möglich ist – nach der Maßgabe des Dichters Beckett: „Weiter scheitern. Wieder scheitern. Aber besser scheitern.“ Gilt für jeden Tag und jedes Leben.

Gregor Gysi, Friedrich Schorlemmer: Was bleiben wird – Ein Gespräch über Herkunft und Zukunft. Herausgegeben von Hans-Dieter Schütt; Aufbau 2015, 294 Seiten