76 Tage lang, von Ende Januar bis Anfang April 2020, war die chinesische Millionenstadt Wuhan von der Außenwelt abgeriegelt. Damit wollte die Stadtregierung den Ausbruch des Coronavirus eindämmen. Die Schriftstellerin Fang Fang publizierte in dieser Zeit einen Tagebuchblog, der als Buch veröffentlicht wurde, allerdings nicht in China. Darin berichtet sie über die sich ausbreitende Seuche und die zunehmend belastende Quarantäne, denn ihre Wohnung verlässt sie nur selten. Sie tauscht sich mit Kollegen aus, kommentiert Versorgungsengpässe und die allgemeine Stimmung, schreibt über das Wetter im Epizentrum der Epidemie: „Jeden Tag verringerte sich die Möglichkeit einer Infizierung. Während dieser Zeit befand ich mich in einer der Verzweiflung nahen Gemütsverfassung.“ Von Ärzten aus den Krankenhäusern der Stadt erfährt sie, unter welchen Bedingungen das medizinische Personal mit dem Virus kämpft, bis die Zentralregierung eingreift, „da jedermann weiß, dass in China sämtliche Kräfte mobilisiert werden, wenn der Staat auf nationaler Ebene die Sache in die Hand nimmt.“

STR/AFP

Immer wieder fragt Fang Fang (auf dem Foto bei Interviews am 22. Februar) nach den Verantwortlichen, die drei Wochen verstreichen ließen, bevor sie Wuhan isolierten. Hatten sie aus dem SARS-Verlauf 2003 nichts gelernt? „Der Ausbruch einer Epidemie zeigt uns das wahre Gesicht der Menge, er führt uns das moralische und professionelle Niveau von Funktionären überall im Land vor Augen, und noch deutlicher enthüllt er die Krankheiten unserer Gesellschaft. Krankheiten, die bösartiger und langwieriger sind als das Coronavirus“, schreibt sie bereits im Januar. Die Zensur löscht mehrere Texte, später wird Fang Fang wegen ihrer Kritik angegriffen. Doch sie sieht ihren Blog auch als Ventil angesichts vieler menschlicher Tragödien, zumal die Wuhaner „kooperativ und mit vereinten Kräften auf die jeweiligen Forderungen“ reagierten. In ihrem Tagebuch wirft sie in einer Ausnahmesituation einen lesenswerten Blick auf den Alltag der Menschen in China, auf die Diskussionen, die sie führen und ihr Verhältnis zu den Behörden auf verschiedenen Ebenen.

Fang Fang: Wuhan Diary – Tagebuch aus einer gesperrten Stadt. Übersetzt von Michael Kahn-Ackermann; Hoffmann und Campe 2020, 352 Seiten

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„Typischerweise bekommt man für Präventionsarbeit weder Lob noch Dank. Denn wenn ein Schaden eintritt, war die Prävention offenbar schlecht oder nicht wirksam genug. Passiert dagegen nichts, dann hätte man sich die Mühe sparen können, weil am Ende ja nichts passiert ist“, stellen Nikil Mukerji und Adriano Mannino nüchtern fest. Trotzdem ergründen die beiden Philosophen während der laufenden Coronakrise das Potenzial ihrer Disziplin: „Drohende und aktuelle Katastrophen stellen typische Kontexte dar, in denen Philosophie in Echtzeit gefragt ist.“ Generell sei es besser, auf Vorrat zu denken, besonders da, „wo viel auf dem Spiel steht.“ Klingt kompliziert?
Zunächst ordnen sie Ereignisse und erkennen Lücken im Krisenmanagement. Die Echtzeit-Kommunikation in Europa müsse verbessert werden, denn das sei eine „Vorsorge- und Solidaritätspflicht, gerade im Kontext drohender, und noch mehr: im Angesicht bereits laufender Katastrophen.“

Andrew Medichini/AP/picture alliance

Nikil Mukerji und Adriano Mannino sehen sich als „kritische Teilnehmer am gegenwärtigen Krisengeschehen“. Als Anfang März der Shutdown für ganz Italien verhängt wurde (das Foto zeigt die Fontana della Barcaccia vor der Spanischen Treppe in Rom), erwarteten sie das auch für Deutschland. Sie untersuchen, wann, wie und auf welcher Grundlage in der Corona-Pandemie bisher Entscheidungen getroffen wurden. Philosophisches Denken in Szenarien könne dazu beitragen, bei unsicherer Datenlage die beste Lösung zu finden: „Schlussfolgerungen sind also versuchsweise zu formulieren und gegebenenfalls zu revidieren, wenn neue, aussagekräftigere Information und Evidenz verfügbar wird. Philosophie in Echtzeit erfordert ständiges Nachjustieren.“ Wissenschaftler sollten intensiver zusammenarbeiten, politische Entscheider einen breiteren Expertenkreis nutzen.
Nikil Mukerji und Adriano Mannino wenden ihre Prämissen noch auf den Klimawandel und die Künstliche Intelligenz an, fragen nach vorhersehbaren Risiken und Optionen. Ihr Buch ist auch für philosophische Laien eine interessante Einladung, über den Rand der bisherigen Erkenntnisse hinauszudenken.

Nikil Mukerji, Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt – Über Philosophie in Echtzeit. Reclam 2020, 120 Seiten

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