Christopher Clark, einer der renommiertesten Historiker, untersucht in seinem neuen Buch, wie sich das Geschichtsverständnis von Machthabern auf ihr Handeln in ihrer Zeit auswirkt.

Für wen arbeitet die Zeit?

Natürlich wollen die Mächtigen, dass die Zeit für sie arbeitet, und sie wollen sie in ihren Dienst stellen. Aber die Zeit arbeitet für niemanden. Bismarck sagte: „Der Mensch kann den Strom der Zeit nicht schaffen und nicht lenken.“

In Ihrem Buch geht es darum, wie Herrschende versuchen, die Zeit für sich zu nutzen, um ihre Macht zu erhalten. Weshalb haben Sie sich vier Herrschaftssysteme aus Deutschland dafür herausgesucht?

Um in meine Untersuchung eine gewisse Stabilität zu bringen, wollte ich auf einem bestimmten Territorium über einen gewissen Zeitraum immer wieder Zeitproben nehmen. Ich habe den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen, danach Friedrich II., dann Bismarck und schließlich die Nationalsozialisten gewählt, weil das aus meiner Sicht Regime sind, die sehr gut die Besonderheiten einer bestimmten Epoche darstellen und vertreten. Der Große Kurfürst regierte in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Dreißigjährigen Krieg. Mitteldeutschland war so zerstört, wie man es bis zum Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebte. Unter Friedrich II. hatte sich Preußen stabilisiert und wurde als europäische Macht angesehen. Bismarck habe ich als einen Mann verstanden, der die Nachwirkungen und Herausforderungen der revolutionären Erschütterungen an die traditionellen Strukturen bewältigen musste. Das Hitlerregime ist das Erbe der großen Krise am Ende des Ersten Weltkriegs, das totalitäre Regime der Moderne schlechthin. Immer wieder mussten die Deutschen mit solchen Krisen fertig werden, daher ist Deutschland ein interessanter Ort, um Zeitproben zu nehmen.

Am Ende des Buches gehen Sie auf die Zeit der Wiedervereinigung ein. Wie betrachten Sie die beiden deutschen Staaten auf dem Weg dorthin?

Obwohl DDR und BRD entgegengesetzte Modelle waren, erkennt man doch gewisse Gemeinsamkeiten. In Westdeutschland spürte man in den späten siebziger Jahren ein gewisses Misstrauen, was die Zukunft angeht. Es wurde über das Waldsterben, den sauren Regen und einen möglichen Atomtod gesprochen, der Glaube an die Zukunft schwand. Wenn man in die DDR der damaligen Zeit schaut, spürt man das auch. In den Medien der DDR ging es immer weniger um die Zukunft und mehr um die Gegenwart. Es sollten die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung gestillt werden, es sollte nicht mehr eine schöne Zukunft mit dem Verzicht in der Gegenwart gekauft werden. Die Zukunft verlor in beiden Fällen an Gewicht.

Alexander Hein

Sie blicken auf die Situation im heutigen Europa und fragen, ob ein Neustart in der Europapolitik gelingen wird. Wovon hängt er Ihrer Meinung nach ab?

Die breite gesellschaftliche Mitte und nicht eine kleine Elite, also alle Kräfte, die sich zu einer demokratischen, freiheitlichen Gesellschaftsordnung bekennen, müssen gemeinsam ein neues Zukunftsmodell entwerfen. Dabei werden nicht alle Details, beispielsweise Verteilungsfragen, abschließend geklärt werden können. Diese neue Zukunft muss Elemente der linken und der grünen Kritik an den bisherigen Modellen aufnehmen und integrieren, um etwas zukunftsfähigeres zu erhalten als die erschöpften Modelle der Gegenwart. Das müssen die Politikerinnen und Politiker zustande bringen. Wie es gegenwärtig läuft, ist für viele Leute nicht mehr plausibel, nicht mehr glaubwürdig und nicht mehr attraktiv.

Was bedeutet Zeit für Sie persönlich?

Wenn man die Mitte des Lebens erreicht, kann es zu Brüchen kommen. Einiges ist nicht dauerhaft, was man für dauerhaft hielt. Man gewinnt ein stärkeres Gefühl für die Endlichkeit des menschlichen Lebens und dafür, wie kurz und zerbrechlich es eigentlich ist. Insofern ändert sich das Verhältnis eines jeden Menschen zur Zeit ständig. Deshalb ist die Geschichte eine gute Schule für das Leben, denn in der Geschichte geht es immer um den Wandel.

Christopher Clark: Von Zeit und Macht – Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Übersetzt von Norbert Juraschitz; Deutsche Verlags-Anstalt 2018, 320 Seiten

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